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Annäherung an Putin: SPD droht zu zersplittern – „Nur militärische Stärke provoziert Gegenschritte“

Das „Manifest“ fordert eine diplomatische Annäherung an Russland. Im Interview spricht Arno Gottschalk von einer „notwendigen Ergänzung.“

© Arno Gottschalk

NATO erhöht Verteidigungsziel auf fünf Prozent des BIP

Das „Manifest“ einiger SPD-Politiker droht die Partei zu spalten. In dem Papier fordern die Unterzeichner unter anderem ein Ende der „Aufrüstung“ und eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Russland. Einer der Unterstützer ist Arno Gottschalk, haushalts- und finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft. Im Interview mit unserer Redaktion bezeichnet er die Schrift als eine „notwendige Ergänzung“ zum gegenwärtigen Kurs.

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Herr Gottschalk, warum haben sie das „Manifest“ unterzeichnet?

Weil die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland zunehmend auf Aufrüstung und militärische Logik verengt wird. Das Manifest setzt dem etwas entgegen: Es ruft dazu auf, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Verständigung nicht aus dem sicherheitspolitischen Denken zu verbannen – sondern sie gerade angesichts des Ukrainekriegs wieder als strategische Optionen zu begreifen. Nicht als Alternative zur Verteidigungsfähigkeit, sondern als notwendige Ergänzung.

SPD-Politiker fordert im Interview „neue Perspektive“ im Umgang mit Russland

Am Mittwoch (09. Juli) hat Putin die Ukraine mit 741 Flugkörpern angegriffen. Es ist das bis dato größte Ausmaß. Ein Ende des Krieges, ohne dass die Ukraine auf sämtliche russische Forderungen eingeht, ist nicht in Sicht. Dennoch wollen sie die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland wieder intensivieren. Warum?

Niemand fordert eine schnelle Normalisierung – das wäre illusorisch. Die eigentliche Frage ist: Bleiben wir auch nach einem – hoffentlich baldigen – Kriegsende dauerhaft in Konfrontation? Suchen wir Sicherheit nur gegen Russland – oder auch mit Russland? Wer nur auf militärische Stärke setzt, provoziert Gegenschritte. Russland wird bei begrenzten Ressourcen verstärkt auf Raketen und Atomwaffen setzen – was im Ergebnis mehr Risiko für uns bedeutet. Deshalb braucht es eine neue Perspektive: gemeinsame Sicherheit, nicht wechselseitige Bedrohung.


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Stößt man der Ukraine und den europäischen Partner damit nicht vor den Kopf? Kann sich Deutschland als „Motor der EU“ einen solchen Alleingang erlauben?

Unser Manifest ist kein deutscher Sonderweg, sondern ein europäischer Debattenbeitrag. Es ist Ausdruck europäischer Verantwortung – gerade weil wir uns um den Zusammenhalt sorgen. Die massive Aufrüstung über das fünf-Prozent-Ziel belastet ökonomisch schwächere EU-Staaten, verschärft politische Spannungen und droht, soziale Spaltung zu vertiefen. Wer Europa sichern will, darf es nicht überfordern. Auch deshalb braucht die EU eine Friedensstrategie. Das fünf-Prozent-Ziel ist ein Sprengsatz für den Zusammenhalt der EU.

Gottschalk: Wachstum der NATO wird in Debatte missachtet

Regelmäßig provoziert Russland die baltischen Staaten, beispielsweise durch Cyberangriffe. Die Bedrohung für Europa ist somit real. Deutschland ist im jetzigen Zustand nicht verteidigungsfähig, wieso fordern sie dennoch den Stopp der Aufrüstung beziehungsweise der Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit?  Ist das nicht naiv? Was passiert, wenn Putin – oder andere Machthaber – ihre Drohungen irgendwann in die Realität umsetzen?

Weder die baltischen Staaten, noch Deutschland stehen allein da. Sie sind Mitglieder im stärksten Militärbündnis der Welt. Die NATO gibt heute elfmal so viel für Rüstung aus wie Russland – viermal so viel, wenn man die Kaufkraft vergleicht. Sie hat mehr als doppelt so viele Soldaten und ist bei den meisten Waffengattungen deutlich überlegen. Dass Deutschland derzeit nicht verteidigungsfähig sei, ist deshalb mehr politische Dramatisierung als nüchterne Analyse. Ja, es gibt Mängel bei der Bundeswehr. Aber eine sachliche Bestandsaufnahme wird durch die gegenwärtige Debatte eher verdrängt als gefördert. Statt klar zu benennen, was zur Verteidigungsfähigkeit nötig ist, wird eine finanzielle Zielgröße gesetzt – fünf Prozent vom BIP. Wofür genau, bleibt unter dem Schleier der Geheimhaltung verborgen.

Sie berufen sich auf die Friedenspolitik von Willy Brandt. Seine Entspannungspolitik war jedoch eingebettet in den Schutzschirm der Nato und die Rüstungsausgaben erhöhten sich zu seiner Zeit von 3,2 auf 3,4 Prozent des BIP. Zu Zeiten von Schmidt gab es den NATO-Doppelbeschluss, unter Schröder gab es den ersten Kampfeinsatz in Afghanistan. Auf welche Tradition zielen sie mit dem „Manifest“ ab?

Richtig: Auch Willy Brandt war kein Träumer, sondern verband Entspannung mit Verteidigungsfähigkeit. Aber: Damals standen 16 NATO-Staaten sieben Warschauer-Pakt-Staaten gegenüber, die Front verlief mitten durch Deutschland. Heute stehen 32 NATO-Staaten einem erheblich kleineren Russland gegenüber. Das BIP der NATO ist heute 30-mal so groß wie das russische. Warum sollten dann eine gleich hohe oder noch höhere Rüstungsquote nötig sein als damals?

Autoren berufen sich auf „Sicherheit als Dreiklang“

Wir stehen in der Tradition einer sozialdemokratischen Politik, die Sicherheit als Dreiklang begreift: ausreichende Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung – mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit. Dafür standen vor allem Willy Brandt und Egon Bahr.

Diesen Anspruch verkörperte auch Helmut Schmidt mit dem NATO-Doppelbeschluss: Aufrüstung – ja, aber nur verbunden mit einem konkreten Verhandlungsangebot. Genau das fehlt heute. Die geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Europa erfolgt ohne jedes diplomatische Signal. Das ist sicherheitspolitisch riskant – und politisch inakzeptabel.

Deshalb ist auch an Gerhard Schröder im Vorfeld des Irak-Krieges zu erinnern: sein mutiges Nein gegenüber einem drängenden und drohenden US-Präsidenten. Loyalität zum Bündnis schließt Widerspruch nicht aus – sie erfordert ihn, wenn es die Verantwortung gebietet.